9. Etappe: Leon - Astorga
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Mittwoch, 19. Mai 2010 - 59 Kilometer
Ich bin früh aufgestanden, weil ich so schnell wie möglich hinaus in die Meseta will, wo ich mich so viel besser fühle, als in diesem Leon. Um 10 Uhr liegt die Stadt endlich hinter mir und ich fahre ganz alleine auf einer Nebenstrasse durch kleine Dörfer. Meine Seele kann die Flügel wieder ausstrecken. Diese unendliche Weite der Meseta hat etwas Befreiendes an sich.
10:39
Ich fahre an einem Haus mit der Aufschrift "Villa Illusion" vorbei. Manchmal kommt mir dieser Camino auch wie eine grosse Illusion vor. Erlebe ich das wirklich alles? Während ich so meinen Gedanken nachhänge, fährt ein Leichenwagen an mir vorbei. Ist der Tod nicht die grösste aller Illusionen? Wann erwache ich aus diesem endlosen Traum?
12:53
Heute habe ich zum ersten mal die Orientierung verloren. Obwohl ich immer auf dem richtigen Weg war, habe ich plötzlich zu zweifeln begonnen und mich immer mehr in eine wachsende Unsicherheit hineingeseigert. Das kam daher, dass ich einfach blindlings einem anderen Fahrradpilger nachgefahren bin, was ich sonst nie gemacht habe.
Ich habe gestern beschlossen, einen vegetarischen Tag einzulegen; mit Äpfeln und Birnen. Doch diese Bocadillos (unverschämt gute spanische belegte Brote) wollen mir nicht aus dem Kopf. Aber ich bleibe hart. Mindestens durch den Tag hindurch gibt's kein Fleisch!
Gegen 15:00 fahre ich in Astorga ein. Ich überlege mir, ob ich in diesem schmucken Städtchen übernachten möchte. Die Refugios überzeugen mich aber nicht und zudem möchte ich morgen möglichst nahe am Cruz de Ferro starten.
So fahre ich noch einige Kilometer weiter nach Murias de Rechivaldo, wo ich ein wunderschönes Refugio mit schönem Innenhof finde. Ich nehme neben zwei Pilgern Platz, trinke ein Bierchen und rauche eine Zigarre. Dann komme ich mit zwei Österreichern ins Gespräch. Der eine, der Hans, ist Totengräber; was für ein Beruf! Er erzählt mir die folgende, seltsame Geschichte. Zurzeit, als er noch Fernfahrer war, musste er einmal Halt machen, weil ein Trauerzug die Strasse überqueren wollte. Der Tote wurde auf einer Bahre von sechs Männern getragen. Genau als der Trauerzug vor seinem Lastwagen war, stürzte einer der Träger, worauf der Sarg von der Bahre viel. Der Tote viel aus dem Sarg und genau dem Hans vor die Räder! Und heute ist er Totengräber. Wenn das nicht der Ruf des Schicksals ist? Nach ein par weiteren Bierchen geht's dann zum Nachtessen.
Mitten im Hof wird aufgedeckt und eine muntere Gesellschaft nimmt Platz. Franzosen, Deutsche, Engländer und meine Wenigkeit nehmen die einfache aber gute Mahlzeit ein. Ein etwas eigenartiger Deutscher, der Kurt, ist mit einem alten Traktor und einem selbstgezimmerten Anhänger unterwegs. Er meint, dass er durchaus noch Platz für eine der Damen vom Tisch in seiner rollenden Bleibe hätte. Da der Altersdurchschnitt der Damen so etwa gegen 60 ist und wir alle schon leicht alkoholisiert sind, gibt es viel zu lachen. Nach dem Essen wird das Gefährt von Kurt inspiziert, welches vor dem Refugio parkiert ist. Obwohl der selbstgezimmerte Wohnwagen eine gewisse Behaglichkeit ausstrahlt, findet Kurt für die heutige Nacht keine Partnerin.
Gerade als ich mich in den Schlafsaal zurückziehen will, läutet mein Handy. Mein jüngste Tochter ist am Apparat. Sie weint, weil sie mich so schrecklich vermisst. Ich versuche sie zu trösten, obwohl mir auch zum Heulen ist.
Als ich in den Schlafsaal komme, ist der Kurt noch immer der Running Gag. Bald wird es aber ruhig. Der morgige Tag bringt grosse Anstrengungen mit sich; der Cruz de Ferro, höchster Punkt der Reise. Ich ziehe den Schlafsack bis über beide Ohren, weil es in den Nächten empfindlich kalt wird. Dann schlafe ich so richtig zufrieden ein. Das war ein Pilgertag wie aus dem Bilderbuch.
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