Gedanken zum Pilgern
Pilgern oder Wandern?
Nachdem ich von der Pilgerreise zurück war, wurde ich immer wieder gefragt, ob ich jetzt auf dem Camino meine Erleuchtung gefunden habe. Schliesslich war ich im heiligen Jahr unterwegs und nach altem Kirchenrecht, habe ich damit einen vollständigen Ablass erwirkt. Um es gleich vorweg zu nehmen, erleuchtet wurde ich nicht. Meine Antwort war dann auch meinst das Aufsagen eines meiner Lieblingsaphorismen: "Wer selber scheint, wird nicht erleuchtet".
Trotzdem hat mich die Frage dazu bewogen, mich mehr mit dem Wesen des Pilgerns auseinanderzusetzen. Dabei habe ich versucht, von meiner Erfahrung ausgehend, auf das Allgemeine zu schliessen.
Was macht eigentlich das Wesen des Pilgern aus? Was unterscheidet es vom Wandern oder vom Biken? Zunächst einmal hat es mit diesen viel Gemeinsames. Da ist das überwältigende Naturerlebnis, die Ruhe, die Einsamkeit und die körperliche Ertüchtigung. Das alles sind Ingredienzen sowohl des Sports wie auch des Pilgerns.
Dann gibt es aber dieses gewisses Etwas, dass dem Wesen des Pilgerns eigen ist, welches schwer zu beschreiben ist. Es gibt keinen graduellen Übergang von dem einem zum andern, sondern einen fundamentale Unterschied. Der Pilger wandert auf einer doppelten Reise, einer inneren und einer äusseren. Natur und körperliche Erschöpfung sind nur Mittel zum Zweck. Sie erhöhen die Bereitschaft, sich der inneren Welt zu öffnen, indem sie die Hüter der Schwelle schwächen. Während dem die äussere Reise von der Quelle zur Senke geht, wandert der Pilger in der inneren Reise den umgekehrten Weg.
Wer den Film „Apokalypse now“ von Francis Ford Coppola gesehen hat, kann etwas von dieser Dynamik erahnen.
Im Jahr 1969, mitten im Vietnamkrieg, erhält Captain Benjamin L. Willard den Auftrag, den abtrünnigen Colonel Walter E. Kurtz zu liquidieren. Dieser hat sich von der amerikanischen Militärführung distanziert und lässt sich nicht mehr kontrollieren. Im kambodschanischen Dschungel hat er sich ein eigenes „Reich“ aufgebaut, über das er gebieterisch herrscht. Captain Willard macht sich in einem Patrouillenboot samt Besatzung von Saigon aus auf den Weg durch den Dschungel. Die Reise der Männer entwickelt sich zu einem Höllentrip durch die Absurditäten eines sinnentleerten Kriegs und offenbart, analog zur Romanvorlage, die Abgründe der menschlichen Seele (Auszug aus Wikipedia)
In dieser kurzen Beschreibung lässt sich viel von dem erkennen, was auf einer Pilgerfahrt wirklich geschieht. Pilgern ist das Einsammeln dessen, was im Laufe eines langen Lebens verloren ging. Es ist das Wiederfinden von seelischen Arealen, zu welchen wir den Kontakt verloren haben. Es braucht Mut und Entschlossenheit, sich diesen Gefilden zu nähern. Es besteht stets die Gefahr, dass der Pilger von den seelischen Inhalten überwältigt wird. Im erwähnten Film von Coppola ist das meisterhaft in der Schlussszene umgesetzt. Willard hat Kurtz mittlerweile gefunden und wurde von diesem gefangen genommen.
Auszug aus Wikipedia: Während der folgenden Zeit, in der Willard Kurtz' Gefangener ist und dessen Monologen über seine Weltsicht zuhört, entfremdet auch er sich seiner selbst und nähert sich den Ansichten von Kurtz. Mit einer Machete tötet er Kurtz letztlich - laut Willards Stimme aus dem Off mit dessen stillem Einverständnis - und erfüllt so seinen Auftrag. Während Willard sich nachts, mit archaischer Kriegsbemalung, langsam an Kurtz heranpirscht und schließlich mit der Machete auf ihn einschlägt, wird abwechselnd in zuerst ruhigen, dann immer schneller aufeinanderfolgenden Schnitten ein gleichzeitig stattfindendes Ritual der Gefolgsleute Kurtz' gezeigt, bei dem einem Wasserbüffel der Kopf abgeschlagen wird. Die gesamte Szene ist mit dem Song „The End“ der Doors unterlegt, wobei die zunehmende Dramatik der Handlung mit der der Musik synchron ist. Schließlich zeigt die Kamera in Nahaufnahme das Gesicht des am Boden liegenden, sterbenden Kurtz, der als letzte Worte flüstert: „Das Grauen! Das Grauen!“ („The horror! The horror!“) Nachdem Willard die wichtigsten Papiere und Aufzeichnungen Kurtz’ unter den Arm gepackt hat, erscheint er vor dem Tempel; als er am Ausgang steht, werfen sich alle „Eingeborenen“ vor ihm auf den Boden. Er steht zur einen Hälfte im Licht und zur anderen Hälfte im Schatten. Hier muss er sich entscheiden: für das Licht, das heißt zurück in die Zivilisation – oder für den Schatten, indem er Kurtz' Platz einnimmt. Er entscheidet sich für das Licht, um dann symbolisch die Machete hinzuwerfen, das Funkgerät auszuschalten und mit Lance auf der Erebus flussabwärts zu fahren.
Lässt man die martialischen Ingredienzien weg, bekommt man ein gutes Gespür für die Seelenlage des Pilgers. Und wenn der Pilger dann von seiner beschwerlichen Reise zurückkommt ist er nicht ein Vollkommener sondern vollständiger als er es bei seinem Aufbruch war; kein Heiliger, sondern heil, im Sinne von ganz. Er hat sich freiwillig in seine seelischen Abgründe gestellt, und der Versuchung widerstanden, selbst Herrscher in jenen Gefilden zu werden.
Letztendlich ist das Pilgern in diesem Sinne auch eine Metapher für das Leben schlechthin. Ob die Pilgerschaft gelungen ist, lässt sich in dem Masse beurteilen, wie der Pilger es geschafft hat, dem doppelten Anspruch der inneren und der äusseren Reise gerecht zu werden. Und dies lässt mich zu den Gesetzen der äusseren Reise kommen.
Als Pilger ist man einer Flut von äusseren Eindrücken und Begegnungen ausgesetzt. Oft weiss man am Abend schon nicht mehr so genau, wo man am Morgen gestartet ist. Begegnungen mit anderen Pilgern werden oft sehr schnell intensiv. Es braucht keine umständlichen Rituale um an die Mitmenschen zu kommen. Der Camino verbindet und öffnet. Kaum jemand fragt nach Beruf oder sozialem Rang. Wie ist dein Name, wer bist du, woher kommst du? Wie viel Kraft liegt in einer so simplen Frage. Ich habe viele Begegnungen gehabt, manche nur wenige Augenblicke, die mich tief berührt haben. Ich denke da an Johannes, mit dem ich einen Abend zusammen im Refugio philosophiert habe und dessen Name ich - aus unerklärlichen Gründen - nicht erfragt habe. Als ich ihn später wieder auf dem Weg getroffen habe, hielt ich kurz an und wir fragten beide wie auf Kommando nach dem Namen des jeweils anderen. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln führ ich weiter, bereichert um die Erfahrung dieser Begegnung. Seit diesem Moment weiss ich, was es heisst, jemand nach seinem Namen zu fragen. Oder der Hans, der Totengräber, der mich ein Abend lang in die Geheimnisse seines Geschäftes eingeweiht hat. Die Liste könnte hier beliebig erweitert werden.
Und kaum ist man sich begegnet, muss man schon wieder loslassen, weiterziehen. Und dies ist die Essenz der äußeren Reise, dieses stetige Verbinden und Loslassen. Die Alchemisten haben dieses Lebensgeheimnis in die Formel "solve et coagula" (löse und verbinde) eingebettet. Beim Pilgern ist mir oft der Gedanke gekommen, dass man sich von Vielem (Menschen, Orte, Gegenstände) nicht trennen kann, weil die Begegnung nicht tief, nicht erfüllend genug war. Dann bleibt die Ahnung, die zur Sehnsucht anwachsen kann, dass da mehr möglich gewesen wäre. Vielleicht ist es gerade die Angst vor diesen ganz tiefen Gefühlen, die uns aneinander kettet und unbefriedigt zurück lässt.
Muss eine Pilgerreise religiös motiviert sein? Auch eine Frage, die mir mehrfach gestellt wurde. Religiös im engeren Sinne muss der Pilger nicht sein. Religion ist bei aller Hilfestellung immer auch einengend. Der Pilger sollte sich aber eingebettet fühlen, in ein grösseres Ganzes, dem alle Pilger verpflichtet sind und das aus ihnen eine Gemeinschaft macht. Ich habe kaum Pilger getroffen, die nicht von dieser "Unio mystica" wenigstens ein bisschen ergriffen waren. Der Pilger als Einzelner erscheint oft so unglaublich verletzlich und klein angesichts der Weite des Weges und der Naturgewalten, derer er sich aussetzt. Die Pilgergemeinschaft als Ganzes verströmt aber eine Grösse und Kraft, die einem Mut und Zuversicht spendet.
Ein weiterer Leitspruch des äusseren Pilgers könnte lauten: "Weniger ist mehr". Erfahrene Pilger erkennt man an der Leichtigkeit ihres Gepäcks. Anfänger müssen noch für jede Eventualität vorbereitet sein und haben wenig Vertrauen in den Weg. Kaum ein Pilger, der nicht nach wenigen Tagen einen Teil seines Gepäcks nach Hause schickt. Auch dies könnte eine Allegorie für das Leben sein. Tragen wir nicht alle zuviel materielle Dinge mit uns herum, die uns vermeintliche Sicherheit vorgaukeln? Kein Vermögen dieser Erde kann die existentielle Angst in uns beruhigen. Auch dies ist eine wertvolle Gabe des Weges an den Pilger. Oder wie Walsh in seinen "Gesprächen mit Gott" sagt: "Das Sein geht der Erfahrung voraus und führt sie herbei". Sei reich und du wirst die Fülle des Lebens erfahren!
Jeder Pilger geht seinen eigenen Weg! Obwohl alle Pilger dem gleichen Ziel verpflichtet sind, geht doch jeder seinen ganz eigenen Weg. Dies äussert sich zunächst dadurch, dass er in seiner eigenen Geschwindigkeit läuft. Versuche einem anderen Pilger nachzulaufen und du wirst schon nach kurzer Zeit erschöpft sein. Dies bedingt, dass der Pilger über weite Strecken alleine unterwegs ist. Das Alleinsein öffnet auch für die Begegnung mit dem anderen. Gruppen oder Paare bleiben immer etwas in sich abgekapselt und genügen sich selbst. Dadurch beraubt man sich einer wichtigen Erfahrung des Pilgerns; der Dialektik von langer Zeit alleine unterwegs und doch mitten im Strom einer Bewegung zu sein. Dieses "gemeinsam alleine" ist wesentlich.
Und wenn du jetzt das Gefühl hast, dass hier einer in einem fiebrigen Anfall einen Haufen Hühnerkacke geschrieben hat, dann bist du vermutlich doch eher der Wanderer oder Sportler und das ist auch gut so. Und das bringt mich zum letzten Punkt des Pilgerns. Humor und Leichtigkeit! Askese durch den Tag und Völlerei am Abend! Ein echter Pilger ist durchaus kein Kostverächter und beendet seinen Tag mit einer Flasche Rioja und ein bis zwei Bierchen. Carpe diem! Auch hier: Der Pilger setzt sich der Polarität den Seins aus und wächst nach allen Seiten (durchaus auch physisch [Bauch] zu verstehen). Und noch einen Nachtrag betreffend Religion. Die katholische Seele kommt mit dieser Ambiguität des Seins besser zu recht als die reformierte.
Und noch ein Schlusswort. Kaum ein Pilger wird allen diesen Punkten gerecht werden. Ich z. B. habe auch nach dem Heimsenden eines Paketes immer noch genug Material mitgeschleppt, dass ich für einen fahrenden CNN-Reporter gehalten wurde (Spiegelreflexkamera, Kompaktkamera, Video, I-Phone, etc.). Im Geiste der Pilgerschaft soll auch jeder selber entscheiden können, wie viel Pilger und wie viel Wanderer er sein möchte. Damit der Camino aber seine spezielle Ausstrahlung nicht dauerhaft verliert, sollte jeder, der ihn begeht, ein bisschen Pilger sein. Sonst verkommt der Weg zum Trail oder zur schönen Wanderroute und von denen gibt es schon genug. Der Jakobsweg ist einzigartig und soll es noch lange bleiben.
Buon Camino
Ein Pilger